Erdogan und das Oppositionsbündnis, Thesencheck zum Krieg in der Ukraine, Japans Zukunft und Vergangenheit
Diese Woche in der Grübelkiste: Ein Hintergrundbericht in Podcast-Form über die Nachwehen des Erdbebens in Syrien und der Türkei, über die anstehenden türkischen Parlamentswahlen und die Probleme des Oppositionsbündnisses; ein ausführliches Video über gängige verkürzte und falsche Darstellung zum Krieg in der Ukraine und den historischen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland; und ein Text über Japans demographische, ökonomische und politische Zukunft (und die Gefahr des Ausbleibens dieser). Viel Spaß beim Lesen!
Abstimmung über die Zukunft des Landes und ihres Präsidenten | Deutschlandfunk
Um was geht es?
Auch Wochen nach den verheerenden Erdbeben in Syrien und der Türkei sind weiterhin hunderttausende Menschen obdachlos. Während die Parlamentswahl in der Türkei allmählich näher rückt, werden die Stimmen lauter, die Pfusch am Bau und Korruption im Baugewerbe als Gründe für das Ausmaß der Zerstörung benennen. Ein Oppositionsbündnis aus sechs Parteien hat sich nun zum Ziel gesetzt, Erdogan von seiner Machtposition zu verdrängen und das 2017 durchgesetzte Präsidialsystem wieder durch eine parlamentarische Demokratie zu ersetzen. Gunnar Köhne berichtet über die Lage im Land und die Chancen und Probleme der Opposition gegen Erdogan.
Was hängen blieb:
Der Beitrag ruft unangenehme Erinnerungen an andere Autokraten wach, die in den letzten Jahren ein nur widerwilliges Interesse daran zeigten, ihre Macht nach verlorener Wahl abzugeben. So wird unmissverständlich klar, dass sich auch trotz der statistischen Möglichkeiten auf eine Abwahl große Probleme identifizieren lassen, darunter die Beteiligung einer zugkräftigen nationalistischen Partei im Oppositionsbündnis, die Möglichkeit von Wahlbetrug, die enge Kontrolle Erdogans von Medien, Militär und Polizei, sowie im Beitrag erwähnte drohende Korruptionsklagen gegen Erdogan, sollte er den Präsidentensitz räumen müssen. Die Aussichten auf einen friedlichen Machtwechsel scheinen damit gefährdet zu sein.
Thesencheck: Diese 8 Behauptungen über den Krieg in der Ukraine sind falsch | Eberhard Karls Universität Tübingen
Um was geht es?
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zieht seine Spuren nicht nur über das physische Schlachtfeld, sondern ist zugleich auch ein Medienkrieg, sowie ein diskursiver Konflikt über die Frage der ‚richtigen‘ Reaktion und Mitverantwortung der westlichen Staaten. Im Wissen, bei großen Teilen der Bevölkerung an unkritische, pro-russische Dispositionen gegen die Staaten der NATO anknüpfen zu können, ergreifen Figuren wie Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer die Gunst der Stunde und agitieren mit unzutreffenden oder verkürzten Darstellungen der Lage gegen die Legitimität der ukrainischen Selbstverteidigung. Der Professor für Osteuropäische Geschichte Klaus Gestwa von der Universität Tübingen hat sich acht solcher inakkuraten Thesen zum Krieg und zum ukrainisch-russischen Verhältnis genauer angesehen, ausführlich analysiert und widerlegt.
Was hängen blieb:
Videos dieser Art würde ich mir viel häufiger wünschen als die knappen und wenig ins Detail gehenden Fakten-Checks/Hintergrundberichte, die man sonst oftmals findet. Gestwa bietet einen guten geschichtlichen Überblick zur nationalen Entwicklung der Ukraine, über die historischen Zugehörigkeiten von Krim und Ostukraine, über Putins strukturell imperialistische Politik und die vertraglich festgehaltenen Verhältnisse zwischen NATO und Russland in den Jahrzehnten vor Invasionsbeginn. Die üppige Quellenliste macht das Video zudem zu einem Dokument mit Überzeugungskraft, das seine Wirkung womöglich auch bei den ein oder anderen ‚Both-Sides-Skeptikern‘ im Familien- oder Freundeskreis entfalten könnte.
Japan was the future but it's stuck in the past | BBC
Um was geht es?
Obwohl Japan weiterhin ein Mekka für Nerdkultur ist (trotz Konkurrenz durch den popkulturellen soft power-Riesen Südkorea), sieht die allgemeine Zukunft des Landes weniger rosig aus; die demographische Entwicklung zeichnet eine massive Überalterung und nur geringe Geburtenraten ab, während die wirtschaftliche Lage mit Deflationssorgen und stagnierenden Löhnen kränkelt. Japan braucht dringend einen Wandel, dessen ist sich Rupert Wingfield-Hayes, Autor dieses nicht mehr ganz taufrischen, aber dennoch lesenswerten Artikels sicher.
Was hängen blieb:
In vielerlei Hinsicht lässt sich Japan als Spiegelbild zu Entwicklungen begreifen, die auch hierzulande eine immer dringlichere Präsenz einnehmen. Besonders aufschlussreich sind dabei Wingfield-Hayes Beobachtungen zu Japans Einwanderungspolitik und die Feststellung, dass das Land im Balanceakt zwischen kultureller Tradition und technologischer Moderne droht, das Klammern an der Stasis einer sozialen Homogenität als höchstes Ideal zu definieren. Eine zentrale Rolle spielt dabei auch die jahrzehntelange Kontrolle der LDP (Liberal Democratic Party), deren zunehmend rechte Politik von Wingfield-Hayes als Fortführung einer Elitenmacht interpretiert wird, die sich bis in die Zeit der Meiji-Restauration zurückführen lässt.