Flow, Ekstase, Selbsterkenntnis – Die Phänomenologie von Rhythm-Games
Vor ungefähr einem halben Jahr geschah etwas, das mein Verhältnis zu Videospielen nachhaltig verändern sollte. Damit man versteht, was ich meine, muss ich allerdings ein wenig ausholen: Ich hatte nie wirklich diesen einen Titel. Dieses eine Spiel, das über Monate oder sogar Jahre zum festen Begleiter der eigenen Freizeit wird. Das dauerhaft fordert, dauerhaft Spaß macht, in das ich mich reinknie, das mir auch nach hunderten Spielstunden noch Befriedigung verschafft und in dem ich stets von neuem einen Horizont erblicke, der meine ludischen Lebensgeister vitalisiert. All dies hatte ich nicht – bis ich eines sonderbaren Tages zufällig über den Steam-Titel Quaver stolperte.
Zur Einordnung: Quaver ist ein Rhythm-Game. Ein Rhythm-Game im Stile von Beatmania, um genau zu sein. Hierbei bewegen sich Noten von einer Bildschirmseite auf die andere und müssen im Rhythmus des Songs ‚angeschlagen‘ werden, der dabei jeweils im Hintergrund spielt. Rhythm-Games im Allgemeinen und das Beatmania-Prinzip im Speziellen erlauben ihren Genre-Vertretern dabei eine schier endlose Varianz: Noten können horizontal oder vertikal durchs Bild fliegen, es kann über Tastatureingaben oder mit spezieller Peripherie gespielt werden, es gibt unterschiedliche Modi, die sich an der Tastenanzahl orientieren, mit der man einen Song bestreiten möchte, und, und, und.
Vor allem aber sind Rhythm-Games dafür bekannt, schwer zu sein. Nicht „Dark Souls schwer“, sondern so richtig schwer. Ich meins ernst; schaut euch mal dieses, dieses, oder dieses Video an, und ich versichere euch, ihr werdet euch im Anschluss fragen, wie ein Mensch, der sich mit euch das gleiche Raum-Zeit-Kontinuum teilt, zu solchen punktgenauen Stakkato-Eingaben im Stande sein kann. So ging es mir zumindest, als ich Videos dieser Art zum ersten Mal sah (und ehrlich gesagt, geht es mir auch jetzt noch so).
Ich selbst hatte lange gar keine Erfahrungen mit Rhythm-Games. Mein einziges Erlebnis mit ihnen, abseits von sporadischen Mini-Games in größeren Titel, die nach einem ähnlichen Prinzip funktionierten, war ein Erlebnis auf der Popkulturmesse Animagic, als ich zum ersten Mal auf einer Tanzmatte stand und in einem mir völlig unbekannten Rhythmusspiel gegen meine Freundin antrat. Hier hatte ich schon Blut geleckt und mehr Spaß am Spiel gefunden, als ich im Vorfeld geahnt hätte, doch dauerte es noch einige Zeit, bis mich irgendein ominöser Zufall wieder zu Rhythm-Games führen sollte.
Dieser Zufall hieß schließlich Quaver und war für mich der Eintritt in eine ganz neue Welt des Spielens. Ich probierte mich am 4K-Modus aus, also der Beschränkung auf lediglich vier unterschiedliche Tasten an Stelle von sieben, wie es Quaver alternativ erlaubt. Eine erste Hürde war für mich, einen Zugang in die musikalische Welt des Genres zu finden. Quaver, sowie Osu! (das vermutlich populärste zeitgenössische Rhythm-Game), sowie wie viele andere Spiele dieser Art basieren auf einem stark community-getriebenen System, in dem Spieler:innen Maps erstellen und damit die Langlebigkeit der Titel selbst vorantreiben. Erwartungsgemäß bestanden die Songs hierbei zum großen Teil aus Anime-Tracks, fernöstlichem Pop, aber auch Titel, die ich in Ermangelung an musikalischem Verständnis nur als „absurden Hardcore-Kram mit mehr Bass und Anschlägen pro Sekunde, als meine Augen und Ohren erfassen können“ bezeichnen kann.
Nichtsdestotrotz stürzte ich mich ins Geschehen, tastete mich vorsichtig an die einfachsten Titel, die ich finden konnte und machte schon bald Fortschritte. Während ich mir in den ersten Wochen und Monaten die Zähne an Titeln ausbiss, die Quaver mit einem Schwierigkeitsgrad von 1-10 definierte, spiele ich aktuell Titel zwischen den Graden 15 und 20. Die Skala des Spiels geht bis in die hohen 30er und beinhaltet dabei Karten, von denen ich mir aktuell nicht im Traum vorstellen kann, sie eines Tages je spielen zu können. Doch – und das ist eine der ersten faszinierenden Erfahrungen, die ich mit Rhythm-Games machen durfte – so ging es mir auch in meiner Anfangszeit mit Songs, an denen ich gnadenlos scheiterte, und die jetzt (wenn auch gerade so) im Rahmen meiner Fähigkeiten liegen.
Das Progressionsgefühl von Rhythm-Games ist berauschend. Das Hochgefühl, nach wochenlangen Wiederholungen einen Song allmählich zu durchdringen, dem Durchspielen immer näher zu kommen, sich dem vorgegebenen Takt immer mehr ergeben zu können, ist enorm. Nie war ich so sehr im Flow, so sehr gebannt von meinem Kampf gegen die Maschine, gegen die Zeit selbst, als in diesem Spiel. Als Mensch mit geringfügiger Instrumentenerfahrung merkte ich zudem gerade bei jenen Songs, die sich besonders in mein Herz schlossen, wie stark ich selbst zu einem Teil der Musikerfahrung wurde, der ich gerade beiwohnte.
In der Phänomenologie des französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty definiert die eigene Körperlichkeit den Ausgangspunkt für unsere Wahrnehmungen der Welt. Das zwischen Außenwelt und Wahrnehmung vermittelnde ‚Körperschema‘ beschränkt sich dabei nicht zwangsläufig auf unseren natürlichen Körper; Gegenstände, die wir in einer gewohnten Regelmäßigkeit „zwischen Körper und Welt“ platzieren, können unser Körperschema verändern. Der eigentlich objektive Gegenstand verlängert damit den ‚natürlichen‘ Umfang unserer Weltwahrnehmung, wird ein Teil von uns. Merleau-Ponty veranschaulicht dies am Beispiel eines Blindenstockes, der für die Person, die ihn führt, zum elementaren Bestandteil des eigenen Körperschemas wird.
Diese Sichtweise (einer Verlängerung der eigenen Körperlichkeit, der eigenen Weltwahrnehmung, durch Prozesse der Habitualisierung) auf die Phänomenologie von Videospielen und ihre Flow-Zustände zu übertragen, fällt nicht sonderlich schwer. Unser Eingabegerät wird hier zur Verlängerung unserer digital dargestellten Wahrnehmung; wir unterscheiden nicht mehr zwischen uns und dem Controller oder der Tastatur; wir drücken uns selbst aus in der Welt, von der wir denken, gerade Teil zu sein, durch das Körperschema, dass das Videospiel uns in seiner Bedienung eröffnet. Ähnliches lässt sich auch fürs Musizieren bemerken: Wir spielen die Gitarre, oder den Bass, indem wir diese Geräte zunehmend ‚inkorporieren‘ und nicht mehr als Fremdkörper in unseren Händen wahrnehmen. Rhythm-Games vereinen hierbei beide Phänomene: Den Wandel der eigenen Tastatur zum unorthodoxen Musikinstrument und den Flow-Zustand, den die audiovisuell berauschende Interaktion – trotz ihrer eigentlich unspektakulären digitalen Darstellung – bietet.
Noch faszinierender als die Flow-Erfahrung war für mich allerdings ein anderer Aspekt: So stellte sich das kontinuierliche Spielen allmählich nicht nur als ein Gradmesser meiner allmählich wachsenden Leistungen heraus, sondern auch als Indikator für meine jeweilige Tagesform. Täglich in Quaver reinzuspielen (mit teils sehr wechselhaftem Erfolg), wurde zu einer Art ‚benchmark test‘ meiner eigenen Verfassung, wodurch ich ein ganz neues Bewusstsein für meine mentalen und körperlichen Zustände lernte. Während ich sonst oftmals unzufrieden war, wenn ein Tag nicht so lief, wie ich es mir vorgestellt hatte, meine Energie an einem Tiefpunkt war, den ich selbst nicht wahrhaben wollte, lehrte mich Quaver eine entscheidende Botschaft: Anzuerkennen, dass es Tage gibt, an denen man besser und schlechter in Form ist, an denen man bessere oder schlechtere Leistung vollbringen kann, und dass man auf diese Tagesformen oft wenig Einfluss hat, sie zu einem gewissen Grad hinnehmen muss. Dass andere, bessere Tage kommen werden.
Meine Erfahrung mit Rhythm-Games eröffnete mir somit nicht nur eine bis dato unbekannten Freude am spielerischen Ehrgeiz und an steilen Lernkurven, die mir in anderen kompetitiven Titeln sonst oft fehlte, sondern stellte sich gleichsam als meditative Reise zu einer gesteigerten Selbsterkenntnis heraus. Der Fähigkeit, besser in den eigenen Körper ‚hineinzuhören‘ – eine Anweisung, die in Achtsamkeitsübungen oft von zentraler Bedeutung ist – bin ich durch Quaver damit unerwarteterweise ein Stückchen nähergekommen. Nachsicht und Verständnis für die Unberechenbarkeit der eigenen Tagesform zu entwickeln mag für den ein oder anderen wie eine Lappalie klingen; für mich brauchte es erst das regelmäßige, hochfrequente Hämmern auf sich allmählich abblätternde Tasten, um dieser Erkenntnis näher zu kommen.
Und hier zum Abschluss noch zwei kleine, selbst aufgenommene Beispielvideos aus Quaver: