Mary Shelleys Frankenstein, Chinas kränkelnder Finanzsektor, Sanktionspolitik und House of the Dragon
Diese Woche in der Grübelkiste: Eine moderne Betrachtung von Mary Shelleys Frankenstein zwischen Proto-Science Fiction und Medizinethik, ein Beitrag über die komplexen Probleme im chinesischen Finanzsektor, eine Einordnung der Effektivität der Sanktionspolitik gegen Russland und ein Ersteindruck zur Serie House of the Dragon.
Die Erfinderin des „Frankenstein" – Wer war Mary Shelley? | SWR Forum
Um was geht es?
Mary Shelley ist eine der faszinierendsten Schriftstellerinnen der englischen Schauerliteratur. Als Tochter der Feministin Mary Wollstonecraft und des Proto-Anarchisten William Godwin schuf sie mit Frankenstein einen Roman, der als Science-Fiction-Grundstein gleichermaßen wie als literarische Verhandlung medizinethischer Fragestellungen gelesen werden kann. Der SWR Forum-Podcast widmet sich dem Buch und unterzieht es eines kritischen Realitätsabgleichs mit unserer Zeit.
Was hängen blieb:
Diskutiert werden vielseitige Zugangsweisen zu Shelley und ihrem Werk; biografische, genreästhetische, zeithistorische, wissenschaftliche, sowie ethisch-moralische. Die interessanteste Debatte war für mich die über den Gegensatz des Natürlichen und des Künstlichen im Roman. Das Monster als künstliche Schöpfung wird verstoßen und scheitert an der Welt, die das Natürliche normiert und romantisiert. Moderne Vergleiche werden hier gezogen zum „Retortenbaby“, das sinnbildlich für die Kontrollausübung steht, die jenen Bereich festlegt, was als wünschenswerte Schöpfung anerkannt wird. Aufzugehen in der Welt der Moderne, als ein Teil von ihr, erfordert somit nicht nur eine Debatte über das Verhältnis und die Bewertung von Künstlichem und Natürlichem, sondern – vielleicht war dies der anarchistische Geist in Shelley selbst – auch den Impuls einer Freiheit, die abseits einer klar abgesteckten Kontrolle von außen Neues und Außerplanmäßiges hervorbringt.
Protests In China: The Story Behind the Bank Scandals | Patrick Boyle
Um was geht es?
Vielleicht habt ihr in den letzten Monaten/Jahren von den vielzähligen Problemen mitbekommen, die sich aktuell im chinesischen Finanz- und Immobiliensektor abspielen: Da wären zum einen die eingefrorenen Konten von Kunden einiger Regionalbanken, die mit hohen Einlagezinsen angelockt wurden und deren Guthaben durch illegale Geschäfte veruntreut wurden. Zudem boomt die Immobilienbranche als spekulativer Investitionsmarkt im Land und bringt Gefahren mit sich, dass Kredite entweder nicht mehr bedient werden können, oder Menschen sich weigern, für Hypotheken zu bezahlen, die sich auch nach Monaten nicht im Bau realer Gebäude widergespiegelt haben. Der YouTuber Patrick Boyle versucht für Entwirrung zu sorgen und fasst die Probleme und politischen Herausforderungen Chinas in diesem Video zusammen.
Was hängen blieb:
Kein einfaches Thema, das möglicherweise mehrfaches Anschauen des Videos abverlangt, das aber einen guten Überblick zur Komplexität der chinesischen Finanzprobleme gibt, die sich zwischen den privaten Verbrauchern und Anlegern auf der einen Seite, und den politischen Liberalisierungen und Regulierungen der Regierung auf der anderen Seite hochgeschaukelt haben. Erschreckend sind vor allem Infos am Rande, beispielsweise, dass die Covid-App Chinas im Zuge der anschwellenden Proteste gegen die eingefrorenen Bankeinlagen von Lokalregierungen dazu missbraucht wurde, Menschen die Reise zu geplanten Ansammlungen zu verwehren. Das Fazit des Finanzchaos scheint wiederum zu sein, dass ein realer, spekulativ entstandener Schaden nicht aufzuhalten ist; die Frage ist nur, wer diesen letztendlich einsteckt. Wie Isabella Weber in ihrem Buch zu Chinas wirtschaftlichem Aufschwung nachgezeichnet hat, war das prägendste Merkmal der chinesischen Regierung in wirtschaftlichen Fragen in den letzten Jahrzehnten ein gewisser Pragmatismus, der gleichsam für Sicherheit und Aufstieg sorgte. Es bleibt abzuwarten, ob Xi diese Versprechen auch in Zukunft noch einlösen können wird.
Putins großer Bluff | Blätter
Um was geht es?
In Folge der gestiegenen Energiepreise hört man des Öfteren das Argument, die Sanktionspolitik gegen Russlands Angriffskrieg sei nicht effektiv: Der Krieg laufe weiter, uns fehle das Gas und Russland könne seine Ausfälle durch andere Wirtschaftsströme wieder wett machen. Dass diese These einer tatsächlichen wirtschaftlichen Analyse nicht standhalten kann, veranschaulicht Michael R. Krätke in diesem Beitrag der Blätter.
Was hängen blieb:
Zentrale Erkenntnisse aus diesem Text waren für mich zwei Dinge: Zum einen, dass Russlands Abhängigkeit vom Welthandel viel größer war als umgekehrt und dass der wirtschaftliche Schaden, den die Menschen im Land erleiden werden, signifikant sein wird. Zum anderen bleibt jedoch leider auch festzuhalten, dass die grundlegendsten Dinge für diesen Krieg – Ernährung, Munition, „Menschenmaterial“ – wohl nicht so schnell ausgehen wird. Damit wird Russlands Kriegsführung wohl oder übel zu einer Frage der politischen Durchhaltekraft des Putin-Systems, sowie des zivilgesellschaftlichen Potentials, sich diesem aktiv entgegenzustellen.
100 Wörter (oder so) über: House of the Dragon
Fantasy-Serien sind in der Mitte des Kapitalismus – Pardon – der Gesellschaft angekommen. Millionenschwere TV-Adaptionen der Werke von beliebten Autoren mit Doppelkonsonanten im Namen repräsentieren die mediendefinierenden Leuchtturmprojekte unserer Zeit. „What a time to be alive“, denkt man sich da, zumindest für einen Moment. Doch dann kommen die mühsam verdrängten Erinnerungen wieder hoch: Daran, wie man den Patienten Game of Thrones noch Jahre nach seinem Lebenszenit auf dem Leidensweg begleitet hat, oder daran, wie es Peter Jackson geschafft hat, ein Kinderbuch von ein paar Hundert Seiten als knapp neunstündiges Epos zu verfilmen, das eher einer nicht enden wollenden Bewältigungstherapie für Jackson ähnelt, um endlich vom Stoff loszulassen, statt einer sinnvollen Ergänzung der Ur-Trilogie. Wider besseres Wissen habe ich es dennoch gewagt und zumindest in die Game of Thrones-Nachfolgeserie House of the Dragon reingeschaut. Fazit nach drei Folgen: Kann man gucken.
Ein zentrales Thema dieser Staffel ist die Frage, welche Rolle eigentlich die Frauen im Ränkespiel der Männer Westeros zu spielen haben und welche Formen der Handlungsfreiheit sich ihnen eröffnen in einem Kosmos, in dem Stammlinien altehrwürdiger Häuser wie Rosengattungen mit möglichst hohen Gewinnabsichten gekreuzt werden, ohne dabei Rücksicht zu nehmen auf den Willen derjenigen, die hier zum bloßen Spielball von Machtinteressen und dem Beharren auf Tradition werden. Leider fehlt House of the Dragon trotz teilweise kompetenter Inszenierung und interessanter Figurenmomente das letzte bisschen Raffinesse, das vor allem die frühen Game of Thrones-Staffeln auszeichnete. Manche Figuren wirken weniger ambivalent, vielen Dialogen fehlt die Pfiffigkeit, und die erzählerischen Rahmen, die bisher aufgespannt wurden, vermissen die Komplexität und Verschachtelung, die A Song of Ice and Fire zu einem Klassiker der modernen Fantasy werden ließ. Dennoch hat mich House of the Dragon zumindest genug angefixt, um erstmal dranzubleiben. Denn als zeitlich gestauchte, fiktive Fantasy-Chronik zerfallender royaler Stammlinien ist das Spin-Off-Experiment allemal interessant.