Panafrikanische Zukunftsvisionen, polyglotte Gedankenexperimente, Neujahrs-Zynismus mit Gramsci und die Misanthropie von Don't Look Up
Diese Woche in der Grübelkiste: Felwine Sarr über Visionen der afrikanischen Emanzipation, Gedankenexperimente zur Frage, ob technische Übersetzungen eines Tages das Sprachenlernen abschaffen werden, ein kurzer pointierter Text von Antonio Gramsci über das Phänomen des Jahreswechsels und 100 Wörter (oder etwas mehr als sonst) über das Menschenbild im Film Don’t Look Up.
Felwine Sarr – Gehört Afrika die Zukunft? | Sternstunde Philosophie/SRF Kultur
Um was geht es?
Der afrikanische Kontinent braucht Zukunftsvisionen, die sich vom Westen emanzipieren, unter anderem auf wirtschaftlicher, kultureller und wissenschaftlicher Ebene. Über solche panafrikanischen und kontextorientierten Transformationsideen für den Kontinent spricht in dieser Ausgabe von Sternstunde Philosophie der Ökonom und Philosoph Felwine Sarr, der mit Afrotopia vor einigen Jahren ein Plädoyer für die Entkopplung von europäisch geprägten vorgeschriebenen Entwicklungsmodellen veröffentlicht hat.
Was hängen blieb:
Das Buch, auf das sich hier bezogen wird, habe ich schon zu Beginn der Pandemie sehr gerne gelesen, nachdem 2019 erstmals die deutsche Fassung erschien. Was mich am Text von Sarr (und damit auch an seiner Argumentationsweise im Interview) sehr fasziniert, ist zum einen seine Fähigkeit, die beschriebenen Visionen sowohl im Großen als auch im Kleinen differenziert darzulegen, und zum anderen sein vielschichtiger Blick auf die gegenseitigen Einflüsse alternativ gedachter Gesellschaftssysteme (bspw. Kunst, soziale Beziehungen, vorkoloniale Denktraditionen…) und ihr jeweiliges Potential für Emanzipation und stärker regionalistisch fokussierte Lösungsansätze für aktuelle Probleme. Die Denkbewegungen, die Sarr skizziert, in denen es unter anderem auch um das produktive dialektische Verhältnis zwischen „Individuum“ und „Kollektiv“ geht, sowie um die Verbesserungen von Wohlstand jenseits aussageschwacher Indikatoren wie dem BIP, könnten auch für zukunftsträge Staaten wie Deutschland ein Vorbild sein.
Alle Sprachen verstehen? Was dann? | mal angenommen/ARD
Um was geht es?
Was wäre, wenn technische Anwendungen für simultane Übersetzungen eines Tages auf einem derart ausgereiften Stand wären, dass ein entsprechendes Device im Ohr genügen würde, um flüssige Unterhaltungen in fremden Sprachen zu führen? Diese Ausgabe von Mal angenommen nimmt sich der Frage an und erläutert die Fallstricke, die mit einer solchen Vision verknüpft sind.
Was hängen blieb:
Zugegebenermaßen bin ich trotz der häufig spannenden Prämissen nicht der größte Fan dieses Formats, da schlussfolgernd oft eine nicht immer glaubwürdige Position der goldenen Mitte suggeriert wird, aber diese Episode fand ich tatsächlich sehr spannend. Die Probleme dieses Zukunftsbilds werden kritisiert, gleichzeitig werden aber auch tatsächliche absehbare Verwendungsmöglichkeiten von technisch gestützten Übersetzungen aufgezeigt. Stark hervorgehoben werden außerdem kontextuelle und kulturelle Eigenheiten von Sprache, die bei einer rein auf technischen Übersetzungen beschränkten Form der Kommunikation dazu führen, dass zentrale Merkmale der Sprachnutzung außen vorgelassen werden (z.B. Wissen über lexikalische Einzigartigkeiten oder zu jeweiligen sprachlichen Gepflogenheiten im Austausch miteinander).
Antonio Gramsci: »Ich hasse Neujahr« | Jacobin Magazin
Um was geht es?
„Deshalb hasse ich Neujahr. Ich möchte, dass jeder Morgen für mich ein Neujahr ist. Jeden Tag will ich mit mir selbst abrechnen, und jeden Tag mich erneuern. Keinen für die Ruhe eingeplanten Tag. Die Pausen wähle ich mir selbst, wenn ich mich betrunken fühle vom intensiven Leben und eintauchen will in die Tierhaftigkeit, um daraus neue Kraft zu schöpfen.“
Was hängen blieb:
Ich bin zwar auch kein Fan vom Jahreswechsel, aber eine Abrechnung, die so sehr vor leidenschaftlicher Genervtheit strotzt wie diese hier vom italienischen Kommunisten Antonio Gramsci, hätte ich wohl trotzdem nicht zustande bekommen. Eine Kritik, unter anderem, der vermeintlich vorgezeichneten Kontinuitäten unserer kollektiven Geschichte, die ebenso argumentativ nachvollziehbar wie auch unfreiwillig witzig ist.
100 Wörter (oder dieses Mal eher so 300) über: Don’t Look Up – Misanthropie hilft nie
Kurz vor Neujahr sah ich noch einen Film bei Netflix, der in mir viele Fragen hervorrief; wahrscheinlich jedoch andere als die, die er ursprünglich beabsichtigte. In Don’t Look Up rast ein Mount Everest großer Asteroid auf die Erde zu. Zwei Wissenschaftler:innen wollen die Regierung und die Öffentlichkeit informieren, prallen aber an Wänden der Machtpolitik, der geistigen Zerstreuung und der Manipulierbarkeit der Masse ab. Nicht nach oben sehen, dann existiert das Problem schon nicht, lautet bald die Devise.
Die Klimametapher ist unübersehbar, der veranschaulichte Konflikt zwischen Wissenschaft, Bevölkerung und Politik aber dermaßen plump und eindimensional, dass er ermüdet. Ein paar halbgare Gags, vom Galgen hinabgerufen, bleiben am Ende übrig, alle jenseits des satirischen Potentials, das eine tatsächliche Aufrüttelung bewirken könnte.
Der Film präsentiert in seiner Plumpheit ein Menschenbild, das binärer nicht sein könnte. Auf der einen Seite die messianische Wissenschaft, bei der das Zuhören und Nachvollziehen bereits als politischer Akt verkannt wird, auf der anderen Seite die dumme Masse, die abseits von blinder Zerstörungswut kein rebellierendes Potential mehr entfalten kann. Dies wird einer Realität nicht gerecht, in der die lautstarken Stimmen zivilgesellschaftlicher Bewegungen zentrale Rollen in den Entwicklungen der Klimapolitik der letzten Jahre gespielt haben.
Schaut man sich die Reaktionen im Netz an, bekommt man das Gefühl, dass der Film vor allem bei jenen anklingt, die es sich im kulturpessimistischen Sumpf des Social-Media tauglichen Trübsal blasens gemütlich gemacht haben. Der Netflix-Aktivismus von Don’t Look Up antizipiert damit bereits ein zutiefst misanthropes Gesellschaftsbild, das seine Zuschauer:innen im Strudel der permanenten Selbstbestätigung verharren lässt. Die tatsächliche Beziehung von Gesellschaft und Krise ist vielschichtiger, die Probleme komplexer, die Menschheit insgesamt besser, als sie dieser Film darstellen will. Zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden Filme wie Don’t Look Up nur dann, wenn wir das Kollektiv Menschheit selbst bereits aufgegeben haben.