Politische Muskeln, Gewalt gegen Chatbots, Wordle-Analysen und A Taxi Driver (2017)
Diese Woche in der Grübelkiste: Die politische Relevanz von Körperkultur, ein interessantes Interview zum Umgang mit vermenschlichten künstlichen Intelligenzen, eine scharfsinnige Analyse des Wordle-Phänomens von Ian Bogost und 100 Wörter (oder so) zum Film A Taxi Driver (2017).
Sind Muskeln politisch? | Muskel-Wahn (8/10) | ARTE
Um was geht es?
Wie Körperkult mit politischer Zielsetzung zusammenhängen kann, und was den Nationalsozialismus in Bezug auf Muskeldarstellungen mit dem Sowjetkommunismus einte, das erklärt dieser Teil der Doku-Reihe Muskel-Wahn von Arte.
Was hängen blieb:
Interessant, wie viel Denkanstöße man doch in viereinhalb Minuten Video packen kann. Spannend fand ich die aufgemachte historische Kontinuität vom Ersten Weltkrieg (als Demütigung männlicher Körperkraft Angesichts der maschinellen Zerstörungskraft) hin zum Nationalsozialismus (als Machtbeweis gegen die „Kränkung“ des Ersten Weltkriegs, als Stählung des völkisch aufgeladenen Körpers als Subjekt der kriegerischen Selbstermächtigung). Dass sowohl im Populismus des Sowjetkommunismus als auch im Dritten Reich Darstellungen von Männerkörpern die muskuläre Potenz des einfachen Mannes in besonderer Weise betonten, verdeutlicht zudem den ideologieübergreifenden Einfluss von gendernormierten Idealisierungen.
Gewalt gegen Chatbots: Alles nur ein Spiel? | Breitband/Deutschlandfunk Kultur
Um was geht es?
Kürzlich machte eine kuriose Nachricht die Runde: Nutzer der Chatbot-App Replika sprachen auf Reddit darüber, wie sie die Repräsentationen digitaler Freundinnen, die durch künstliche Intelligenz zur niedrigschwelligen Konversation fähig ist, niedermachten und abfällig beleidigten. Ein Shitstorm brach los, der sich mit der Frage beschäftigte, inwiefern menschliche Verrohung anhand des Umgangs mit Gegenständen, in diesem Fall simulierten Menschen, eintrainiert werde. Breitband spricht über das Thema mit dem Chatbot-Experten und Informatik-Ethiker Oliver Bendel.
Was hängen blieb:
Anders als die etwas geistlosen Kommentare der Moderation bietet das Interview mit Professor Bendel einige interessante Gedanken zum Themenkomplex „Übergriffigkeit gegen Simulationen“. Da manche Chatbots wie Replika anscheinend auch zur Befriedigung sexueller Vorlieben genutzt wird, lässt sich die Frage stellen, ob ein grober Umgang mit künstlichen Intelligenzen auch dann zu verurteilen ist, wenn es um das Ausleben von Fantasien geht, die klare Grenzen zum sonst üblichen zwischenmenschlichen Kontakt aufweisen. Wichtig scheint jedoch in jedem Fall zu sein, ob nicht gewisse, in der Programmierung bereits angelegte Charakterzüge (beispielsweise derogativ-stereotype Frauenbilder) im besonderen Maße negativ-konnotierte Interaktionen fördern könnten. Schwierig zu beantworten, bleibt auch die Frage nach einer konkreten kausalen Übertragbarkeit vom virtuellen Handeln ins reale Leben. Doch auch wenn hierzu (noch) keine verlässliche Datenlage vorliegt, wäre das kein Grund, nicht schon jetzt mit Voraussicht auf zukünftige Probleme künstliche Intelligenzen zu entwickeln.
I Figured Out Wordle’s Secret | The Atlantic
Um was geht es?
Wordle ist ein Internet-Phänomen, das sich jetzt schon länger hält, als ich es für möglich gehalten hätte. Die Game Studies-Koryphäe Ian Bogost nimmt sich für The Atlantic dem Spiel an und analysiert sowohl auf mechanischer als auch auf sozialer Ebene die Erfolgsformel hinter dem Kästchenraten.
Was hängen blieb:
Der mit Abstand beste und ausführlichste Text, den ich bisher zu Wordle gelesen habe. Schön sind vor allem die Ausführungen zum Verhältnis von Originalität und Gewohntheit, sowie die beschriebene Möglichkeit zur Empfindung von Selbstwirksamkeit, die Wordle zu einem Spiel seiner Zeit macht. Achtung, schamlose Eigenwerbung: Für meinen Blog schrieb ich ebenfalls einen kurzen Text zum Wordle-Phänomen.
100 Wörter (oder so) über: A Taxi Driver (2017)
Als der in Geldnot geratene Seouler Taxifahrer Kim Man-seob zufällig mitbekommt, dass ein deutscher Reporter bereit ist, 100.000 Won für eine Fahrt ins entfernte Gwangju zu zahlen, möchte er eigentlich nur ein schnelles Geschäft machen, um rasch wieder bei seiner Tochter sein zu können. Doch es ist das Jahr 1980 und in Gwangju herrscht Chaos: Die zu diesem Zeitpunkt stattfindenden Demokratiedemonstrationen werden mit aller Waffengewalt von der Militärdiktatur bekämpft, die das Kriegsrecht ausgerufen hat.
Das Historiendrama mit gelegentlichen Neigungen zum Actionfilm profitiert vor allem durch seine Hauptfigur (gespielt von Parasite-Darsteller Song Kang-ho), die erst in stoisch-gleichgültiger und später in empathisch-involvierter Manier dem zugrundeliegenden Thema des Kampfes gegen die Unterdrückung einen spannenden Anstrich verpasst. Die Sippenhaft autoritärer Politik, die willkürliche Ausübung von exekutiver Ungerechtigkeit und der zivile Ungehorsam als einziger Ausweg werden durch Kim, der die Provinzler im Einklang mit der Staatspropaganda erst als Unruhestifter abzuhandeln versucht, in aller Deutlichkeit anhand seiner eigenen Figurenentwicklung vermittelt.
2017 erschien A Taxi Driver, erst Ende 2021 kam er jedoch nach Deutschland. Die zeithistorisch bedeutsamen Aufnahmen des 2016 verstorbenen Reporters Jürgen Hinzpeter gingen damals um die Welt. Es wäre diesem Film zu wünschen, dass seine bemerkenswerte Geschichte von deutsch-südkoreanischer Zusammenarbeit, von Freundschaft und vom Mut zum Idealismus auch hierzulande eine größere Bekanntheit erführe.