Steinzeit-Mythen, Literatur der Inuit, Erbschaftssteuer und Ranking of Kings
Diese Woche in der Grübelkiste: Mythen zur Steinzeit, Literatur der Inuit, verfassungsfeindliche Erbschaftssteuern und 100 Wörter (oder so) zum Anime Ranking of Kings.
War die Steinzeit viel weiter entwickelt? | ARTE
Um was geht es?
Dass sich Wissenschaft immer mit der Unbestimmtheit und möglichen Unvollständigkeit der eigenen Erkenntnisse abfinden muss, trifft nicht nur auf die Erforschung der Gegenwart zu, sondern auch auf Funde der Vergangenheit, die dank erneuter Betrachtung in einem anderen Licht erscheinen als zuvor. In dieser Doku über archäologische Funde des Gravettien, einem Kulturabschnitt des Jungpaläolithikums, geht es um solche Neuinterpretationen am Beispiel von Bestattungsritualen und von hartnäckigen Mythen zu den Geschlechterrollen, die vor gut 25.000 Jahren herrschten.
Was hängen blieb:
Der Beitrag steigt mit folgendem Beispiel ein: Gefunden wurde das Skelett einer Person, ausgestattet mit Kopfschmuck und einem kräftigen Körperbau. Anscheinend ein Mann, der eine besondere Stellung genoss. Gut 100 Jahre nach dem ursprünglichen Fund stellt sich durch eine Neubetrachtung heraus; das Skelett stammt in Wahrheit von einer Frau. Daran zeigt sich: Werden gesellschaftliche Zustände der Gegenwart unkritisch in die Vergangenheit projiziert, reproduziert sich hierdurch nur die gegenwärtige Ideologie, die ihre Gültigkeit als geradezu naturgegeben zu verklären versucht.
Ähnliches wird im Beitrag auch in Bezug auf Wohlstand und Hierarchien veranschaulicht; zwei prunkvoll ausgestattete Skelette von Kindern stehen hier sinnbildlich für den wissenschaftlichen Konflikt, ob dieser Fund als frühes Zeichen von vererbter Macht dienen soll, oder ob andere (kulturelle, rituelle) Gründe als Erklärung für die Grabstätte herhalten können. Das Aufbrechen solcher Mythen ist ein unheimlich spannendes Thema, wie diese Doku eindrucksvoll vermittelt, und umso mehr freue ich mich jetzt darauf, in Bälde David Graebers letztes Buch Anfänge zu lesen, in dem es um moderne Narrative und Erkenntnisse zu frühen Zivilisationen geht.
Literatur der Inuit - Hart am Rand | BR radioWissen
Um was geht es?
Die Geschichte der Literatur der Inuit lässt sich ohne eine Geschichte des Kolonialismus nicht erzählen. Die indigenen Bewohner aus den arktischen Regionen Kanadas, Grönlands und Alaskas treten in niedergeschriebener Form erst allmählich durch kirchliche Missionare in Erscheinung. Als Teil der rassistischen „Völkerschauen“ des 19. und 20. Jahrhundert wurden Inuit einem weißen Publikum als entmenschlichtes Ausstellungsstück präsentiert, gleichzeitig wurden viele Kinder in Internate geschickt, die ihnen ihre Kultur austreiben sollten. Das Leid dieser Kolonialgeschichte zieht sich bis zu den heutigen Nachfahren, die meist überdurchschnittlich schlechten Lebensverhältnissen ausgesetzt sind. Anknüpfend an diese Hintergründe gibt der Beitrag einen Einblick in postkoloniale Literaturansätze, Erzählweisen der Inuit-Kultur und moderne Interpretationen traditioneller Mythen wie dem Kinderbuch Die Fuchs Frau von Beatrice Deer.
Was hängen blieb:
Besonders interessant fand ich den Einblick in die überlieferten vorschriftlichen Erzähltechniken; mündlich vorgetragene Geschichten wurden dabei nicht nur mit Gesang und Tanz, sondern auch mit komplexen Zeichnungen im Schnee kombiniert (das sogenannte storyknifing). Darüber hätte ich gerne noch mehr erfahren. Auch die überraschend explizite, teilweise grenzwertige Bildsprache vieler Werke, von der Experte Hartmut Lutz spricht, böte wohl durchaus interessanten Stoff, würde man sich damit tiefergehend auseinandersetzen (beispielsweise die Frage, ob sich Grenzüberschreitungen des “guten Geschmacks” als Stilmittel von postkolonialer Literatur auch in anderen Kontexten wiederfindet).
Erbschaftsteuer: Wie von Oligarchen bestellt | Blätter für deutsche und internationale Politik
Um was geht es?
Das aktuelle System unserer Erbschafts- und Schenkungssteuer ist erwiesenermaßen verfassungswidrig, bringt Brüche gegen die Gewaltenteilung mit sich, und hält sich lediglich dank wirksamem politischen Lobbyismus und Manipulation der öffentlichen Meinung. Dieser Meinung muss man zwangsläufig sein, nachdem man diesen Text von Gerhard Schick gelesen hat, der detailreich die Entwicklung des Erbens in Deutschland ausgehend vom späten 19. Jahrhundert bis zur letzten Bundesregierung skizziert. Dabei lässt sich ziemlich genau ablesen, wie beispielsweise der Mythos der gefährdeten Arbeitsplätze durch Versteuerung von Betriebsvermögen in den frühen 90ern seinen Anfang nahm, was immer größere steuerliche Erlasse und Begünstigungen zur Folge hatte. Ein System, das im Umkehrschluss immense steuerliche Ungleichheit hervorbringt, die mit dem Grundgesetz nicht mehr vereinbar sind und politisch dringend angegangen werden müssten.
Was hängen blieb:
Ein Text voller erdrückender Fakten und in Worte gefasster Ausdrücke von Ungerechtigkeiten. Ein kleines Beispiel: Im Jahr 2019 wurden die 127 größten Schenkungen mit weniger als einem Prozent besteuert, während auf private Erbschaften, je nach Verwandtschaftsgrad, Steuersätze von bis zu 50 Prozent entfallen können. Oder ein anderes Beispiel: Während die überwiegende Mehrheit im Lande kaum oder gar nicht erbt, haben die 100 reichsten Familiendynastien über mehrere Generationen ein Gesamtvolumen von über einer Billion Euro angehäuft. Damit gehört ihnen jeder zehnte Euro in Deutschland. Oder noch ein schöner Fakt unseren Bundeskanzler in spe betreffend: Nachdem der Bundesfinanzhof 2017 entschied, dass Regelungen zur Erbschaftssteuer, die besagten, dass Immobilien ab einem Bestand von 300 Wohnungen pauschal als Betriebsvermögen einzuordnen wären, als verfassungsfeindlich galten, reagierte das Bundesfinanzministerium und damit Scholz mit einem Nichtanwendungserlass, der den Finanzämter ermöglichte, das Urteil zu ignorieren. Wenn ihr jetzt nicht das Gefühl habt, dass mit Reichtum politische und öffentliche Einflussnahme machbar ist, weiß ich auch nicht weiter…
100 Wörter (oder so) über: Ranking of Kings
Seit des Ikarus-artigen Höhenflugs und Absturzes von Wonder Egg Priority bin ich ein gebranntes Kind was voreiliges Hochloben von Anime angeht. Ranking of Kings, das gerade bei Wakanim zu sehen ist, strahlt allerdings dank Manga-Vorlage in den bisher erschienenen neun Folgen eine ganz andere Selbstsicherheit in Bezug auf Plot- und Figurenentwicklung aus. Der kleingewachsene, schmächtige und gehörlose Prinzensohn Boji soll neuer Herrscher über das Königreich des kürzlich verstorbenen Riesen Bosse werden, zur Missgunst einiger Beteiligter am Hofe. Es entspinnt sich ein verwobener Machtkampf an mehreren Fronten, der hochgradig Emotionales bietet, aber auch überraschend unkonventionelle Haken in der Erzählweise schlägt. Reinschauen wird dringend empfohlen, mit der Warnung, dass Boji (wie bei mir geschehen) der Shonen-Held sein könnte, an dem ihr sowohl euer Herz als auch eure Tränendrüse verliert.